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Von der Freiheit

sich zu entscheiden ... Reflexionen zu einem Philosophinnen-Buch

Strandspuren

Vor fast vier Monaten habe ich meine Gestaltweiterbildung beendet. Damals (Blog vom 03.11.2016) ging ich noch davon aus, dass ich eine Pause einlege, weil ich "Einiges sacken lassen, kauen und verdauen [wollte] (das hat lange bevor ich von Gestalt gehört habe, ein Kollege in Maastricht immer mal wieder gesagt - und ich weiß nun, wie recht er hat)."

 

Die folgenden Monate haben dann gezeigt, dass "Mein Jahr als Gestalt" zu Ende ist. Ein Jahr Selbsterfahrung ist genug. Es gibt so vieles, das ich lernen und tun möchte. Dazu gehören - neben dem Leben auf und mit dem Meer - Soziologie und Ethnologie (Stichwort: Netzwerkanalyse - Blog vom 24.02.2017) und Sozioinformatik. Und ich habe mich nach reichlich Fühlen sehr gerne wieder dem Denken zugewendet. Ein Buchgeschenk und die Begleitung einer philosophischen Hausarbeit einer Freundin haben mir - wieder - einen Zugang zur Philosophie geöffnet.

 

Freiheit und Lebenskunst

So ist das Kapitel im Buch "Zwischen Glück und Freiheit - Philosophinnen-Porträts von der Antike bis zur Gegenwart" (herausgegeben von Barbara Brüning 2012) überschrieben, das ein Gespräch zwischen Jutta Syguda und der Philosophin Dr. Christiane Pohl wiedergibt, die in Hamburg eine Philosophische Praxis führt. Was mir in Gestalt fehlte - der strukturierte Austausch, die Ratio und das reflektierte Nachdenken, der Dialog - sind Stärken der Philosophie.

 

Christiane Pohl veranschaulicht sehr gut vier Freiheitssituationen, in denen es vor allem darum geht, ob und wenn ja, wie wir uns entscheiden.

  • die Freiheit, sich zu entscheiden: Welche Wahl soll ich treffen?
  • die Freiheit, über ethische und moralische Fragen zu entscheiden: Wie soll ich mich verhalten? Wie kann ich vor mir selbst bestehen? (Handle so, dass du würdig bist, glücklich zu sein - nach Immanuel Kant, 1724-1804)
  • die Freiheit, Gedanken und Gefühle zu lenken: zum Beispiel stärker als die Angst zu werden (nach Seneca, 4 v.Chr. - 64 n.Chr.)
  • die Negation der Freiheit: das Schwinden von Freiheit, wenn wir zum Beispiel schwer krank werden - oder, so möchte ich hinzu fügen, gesellschaftlich oder politisch unterdrückt werden.

Dieses Kapitel schließt sich an zehn sehr gute und interessante Beiträge verschiedener Autorinnen und eines Autors über Philosophinnen von der Antike bis zur Gegenwart. Sehr schön fand ich, dass es nicht alle "studierte" Philosophinnen sind. Bis vor gut hundert Jahren war es Frauen nur sehr eingeschränkt möglich, überhaupt zu studieren. Aber auch eine aus der Gegenwart vorgestellte Frau ist keine gelernte Philosophin, sondern Ärztin. Klar, dass ich mich gefreut habe, mit Nawal El Sadaawi einer Kollegin in diesem Buch zu begegnen. Und mit Martha Nussbaum eine Frau kennen zu lernen, die sich damit auseinandersetzt, wie wir Menschen darin stärken können (engl.: empowerment), ein gutes Leben zu führen. Ein Ansatz, über den schon Aristoteles nachgedacht hat und der in Public Health von zentraler Bedeutung ist.

 

Philosophen machen genau das, was auch Psychologen und Menschen aus anderen Gebieten, die mit Menschen arbeiten, sich auf die Fahne schreiben: empathisch und aktiv zuhören, nachdenken, hinein fühlen und in einen Dialog treten. Christiane Pohl: "Ich sehe immer wieder, dass ein Gedanke seine volle Kraft erst dann erhält, wenn man sich über ihn austauscht." (Brüning 2012, S. 176)

 

In den nächsten Monaten werde ich sicher über den Reichtum der Sozioinformatik nachdenken und - unter anderem - mit den Studierenden in einen Dialog treten. Vielleicht wird auch noch das ein oder andere aus "Mein(em) Jahr als Gestalt" auftauchen. Denn natürlich passiert nach so einem Jahr noch das ein oder andere.

 

Christa Weßel - Sonntag, 26. Februar 2017

 

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[05.03.2017: mehr zum Interview mit der Philosophin Christiane Pohl im Eintrag Professionalität]

 

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