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Ich schreibe

um herauszufinden, was ich denke

Tagebücher 1964-1980. Übersetzt von Kathrin Razum. Karl Hauser Verlag 2013. Die Autorin: Susan Sontag. Doch es soll hier nicht die Rede von ihren Tagebüchern sein, sondern von dem Interview, das Jonathan Cott mit Susan Sontag 1978 geführt hat. In gekürzter Fassung war es im Rolling Stone Magazin erschienen. 2013 erschien das vollständige Interview bei Yale University Press. 2014 auch auf Deutsch bei Hoffmann und Campe, übersetzt von Georg Deggerich. Ich habe die btb-Taschenbuchausgabe im Februar in Bern gefunden. Vielmehr: sie ist mir in einer kleinen, feinen Buchhandlung in der Münstergass begegnet (Blogger-Kollege Rudi Moos hat berichtet ...)

 

Warum habe ich mich für die deutsche Übersetzung entschieden

statt das Interview im Original zu lesen? Susan Sontag (1933 - 2004) war eine hochgebildete Frau. Eine Schriftstellerin, für deren Bücher in meinen Augen die Leser ein sehr gutes Sprachverständnis haben sollten. Jonathan Cott schreibt im Vorwort zum Interview über den "Reichtum und Geschmeidigkeit ihrer Rede" (S. 17) und darüber, dass " ... Susan nicht in Sätzen [redete], sondern in wohlüberlegten, langen Absätzen. " (S. 17). [Die Seitenanagaben beziehen sich auf die unten angegebene Ausgabe des Interviews.]


Dieses neunstündige Interview ist ein Dialog. Susan sprach mit Jonathan an zwei Tagen insgesamt neun Stunden, zunächst in Paris und einige Monate später in New York.

Ein Interview als Einführung in das Werk

einer Essayistin, Schriftstellerin, Dramatikerin, Filmemacherin und politischen Aktivistin kann gelingen, wenn es ein solcher Dialog ist. Susan spricht über ihre Werke, ihre Haltungen, ihre Veränderungen und über Philosophie, Krankheit, Kunst, Liebe, Sexualität, Arbeit, Lebensorte und -kultur und einiges mehr.


Zwei Aspekte möchte ich herausgreifen, die mich sehr berührt haben: der Dialog mit dem Leser und Lebensrhythmus. Dazu muss ich zunächst einmal beschreiben, was Schreiben eigentlich ist - für mich. Was es für Susan Sontag bedeutet und wie sie arbeitet, das beschreibt sie im Interview. Dann müsste ich sehr lange Passagen aus dem Interview zitieren. Und das ist nicht Sinn dieser Reflexion.

 

Schreiben und Dialog

Beim Schreiben bin ich allein. Schreiben ist mehr als das Verfassen von Texten. Schreiben ist Reflexion - zum Beispiel auf langen Spaziergängen, beim Putzen und Pflege eines Bootes oder eines alten Hauses oder auch beim Duschen oder beim einfach nur Löcher-in-die-Luft-gucken. Schreiben ist Lesen. Lesen zufällig gefundener und systematisch recherchierter Quellen. Schreiben ist Texte überarbeiten und in einen flüssigen Zusammenhang bringen.


Schreiben braucht also sehr viel Allein-Zeit. Ein Zustand, den ich seit meiner Kindheit genieße. Ich bin in einer großem Familie mit einem Handwerksbetrieb mit etlichen Lehrlingen und Gesellen in einer ländlichen Gegend aufgewachsen.


Der Dialog, das Gespräch, die Begegnung mit Menschen machen dieses Schreiben erst möglich. Sie sind Inspiration, Spiegel und Feedback. Susan Sontag sagt (S. 16 f.):


" ... Ich mag es, mit Leuten zu reden - deshalb bin ich auch keine Einsiedlerin -, und Gespräche geben mir die Gelegenheit, herauszufinden, was ich denke. Was die Leserschaft denkt, interessiert mich nicht, denn sie ist eine abstrakte Größe, aber mich interessiert sehr wohl, was der Einzelne denkt, und dazu bedarf es der Begegnung von Angesicht zu Angesicht."

 

Das war die erste von vielen weitern Stellen in diesem Interview, an der ich gedacht habe: genau. Außerdem gab es Vieles, das auslöste: interessant, neu, sehe ich anders, werde ich weiter darüber nachdenken.

 

Lebensrhythmus

Im Interview geht es auch um die Bedeutung dessen, was ich "Allein-Zeit" nenne. Autoren, Schriftsteller, Maler und auch Musiker brauchen viel Allein-Zeit. Meine Annahme ist, dass Allein-Zeit jedem Menschen gut tut. Wie viel dies sein sollte,
muss jede*r selbst herausfinden.


Susan Sontag sagt dazu - auch und gerade in Bezug auf Schriftsteller (S. 123):

 

"Die Frage ist, ob man sich dem gesellschaftlichen Leben verschreibt und wie viel Zeit man mit Dingen vergeudet, die einem selbst und anderen Leuten glamourös erscheinen mögen."


Susan hat dies 1978 gesagt und jetzt, 2018, ist dies mehr denn je gültig. Es betrifft nicht mehr nur bekannte Menschen sondern jede und jeden, die einen Account in einem digitalen sozialen Netzwerk nutzen. Zwei bis drei Stunden pro Tag ... so die derzeitigen Erkenntnisse über "den ganz normalen Nutzer" (Blog vom 10. März 2018).


Darum ist die Sozioinformatik zu einem meiner Arbeitsschwerpunkte geworden, darum schreibe und unterrichte ich: verstehen, warum dies so ist, Bewusstsein schaffen. Wege hin zur Selbstbestimmung und digitalen Kompetenz finden und anderen eröffnen.

 

Zweiklang

Im letzten Teil schildert Susan, warum und wie sie an zwei Orten lebt, in New York und in Paris. Zwei Orte, die - so habe ich Susan verstanden - für verschiedene Kulturen, Lebensarten und auch für den Kontrapunkt Stadt und Natur stehen. Sie bezeichnet New York als ihren Lebensmittelpunkt, beschreibt warum sie sich diesem Ort verbunden fühlt und sagt dann (S. 143):


"... Man kann nicht auf dem Rücken auf der Erde liegen, in den Nachthimmel starren und ein Sternenmeer sehen, was einen eine Menge über die eigene Sterblichkeit und seinen Platz im Universum lehren könnte ..."


Susan hat Orte gefunden, an denen sie dies tun konnte. Wie so oft in diesem Interview habe ich gedacht: Genau. Und diesmal noch: Darum lebe auch ich an zwei Orten.


Christa Weßel - Freitag, 23. März 2018

 

Quellen

  • Cott. J. Susan Sontag Jonathan Cott The Doors and Dostojewski. Das Rolling Stone Interview. 2. Auflage. München, btb 2016 - Cott J. The complete Rolling Stone Interview, London and New Haven, Yale University Press 2013.
  • Sontag S. Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980. Übersetzt von Kathrin Razum. Karl Hauser Verlag 2013.

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