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Elche bändigen

Sicherheitskultur im Gesundheitswesen

Christa Weßel (2019) Kompass

 

[update am 14 August 2023, siehe auch Blog Work in Progress: Kultur ... aber sicher]

 

Vor einigen Tagen, am 11. Oktober 2014, fand in Hannover das 11. ZQ-Forum Patientensicherheit und Risikomanagement statt. Es ging darum, wie sich der vierte der Tabu-Elche bändigen lässt, der Fehler-Elch. Die anderen drei Elche stehen für die Themen Macht, Karriere und Beziehungen. Denis Perkins hat die Metapher dieser vier Elche entwickelt (Perkins 1988; Cummings 2008).  

Fokus der Tagung in Hannover war, wie Akteure im Gesundheitswesen vom Ausführen von Richtlinien und Gesetzen hin zum Gestalten kommen. Versammelt waren die, die schon überzeugt sind. Es waren vor allem Führungskräfte aus Ärzteschaft, Pflegenden, Qualitätsmanagement und Verwaltung.

Sie - so die leitende These dieser Veranstaltung - bilden den Ausgangspunkt für die Gestaltung einer proaktiven, verantwortungsvollen und offenen Kultur in ihren Organisationen, denn es geht nicht nur um Fehler, Risikomanagement und Sicherheitskultur. Es geht um Organisationskultur und Selbstverständnis auch und gerade von Führungskräften.

Das Zentrum für Qualität und Management im Gesundheitswesen der Ärztekammer Niedersachsen hat es verstanden, einige sehr gute Vortragende zu gewinnen, die mit den Teilnehmern intensiv über Branchen- und vor allen auch Berufsgruppengrenzen hinweg blickten.

 

Was geschah im Einzelnen? Was blieb hängen?

Im Folgenden trage ich einige Kernaussagen und vor allem Fragen zusammen, so wie ich sie von den Vortragenden und den Kolleginnen und Kollegen im World Café "Stolpersteine / Meilensteine" und in den Dialogen zu den Vorträgen verstanden habe.

Dabei nehme ich vor allem Bezug auf den Vortrag des Organisationspsychologen Prof. Dr. Theo Wehner. Er reflektierte über das Entstehen von und den Umgang mit Fehlern und den Zusammenhang von Annahmen, Entscheidungen, Handlungen und Verantwortung: "Qualität und Patientensicherheit: Beides verlangt Verantwortung, beides erzeugt Verantwortungsdiffusion."

Der Inhalt dieses Blogeintrags ist also vor allem den Vortragenden und Gesprächspartnern der Tagung am 11. Oktober zu verdanken. Fehler und Unvollständigkeiten liegen bei der Autorin.

Denn, wie Professor Wehner sagte, Menschen redefinieren ihre Aufgaben, wenn sie sie lesen oder hören. Menschen reformulieren und bringen ihre ganz subjektive Sicht hinein. Systemiker und schon lange vor ihnen der Philosoph Hans Vaihinger sprechen davon, dass es nicht "die" Wahrheit gibt.

 

Worum es ging: 

 

Patientensicherheit

Patientensicherheit ist das Resultat einer fehler- und schadenfreien ärztlichen Behandlung und medizinischen Gesundheitsversorgung (Wikipedia). Sie umfasst alle Maßnahmen, die Patienten vor vermeidbaren Schäden bewahren sollen.

Risiko ist die Beschreibung eines Ereignisses mit möglicher negativer Auswirkung (Chance: positive Auswirkung).

Risikomanagement zielt ab auf die Minimierung solcher Ereignisse und stuft dabei in Klassen nach Schadensausmaß und Auftrittswahrscheinlichkeit ein.

Im Risikomanagement geht es nicht um die persönliche Zuweisung von Fehlern, sondern um die Minimierung vermeidbarer unerwünschte Ereignisse. In Medizin und Pflege kann es nicht "Null Fehler" geben. Es gibt jedoch eine lange Tradition der Minimierung vermeidbarer unerwünschter Ereignisse.

Dazu gehören Ausbildung und Trainings in Simulatoren, Inter- und Supervisionen, Reflexionen in Visiten, "M und M" und anderen Fallkonferenzen und  - vor allem - die kontinuierliche Weiterbildung, das lebenslange Lernen. (M und M steht für Mortalität und Morbidität. In diesen regelmäßigen Konferenzen erörtern die behandelnden Ärzte die Todesfälle und Erkrankungen ihrer Patienten. In Krankenhäusern finden sie in der Regel wöchentlich oder zweiwöchentlich abteilungsinternen und abteilungsübergreifend statt. Größere Abstände kommen vor.)

 

Was sind Fehler? Aus Fehlern lernen?

Fehler sind Zielverfehlungen. Wer von Fehlern spricht, spricht vom Handeln. Handeln nimmt das Ziel vorweg. Handeln antizipiert das Ziel (Wehner).

Es gibt keinen Fehler ohne Handlung und keine Handlung ohne Entscheidung. Die schlimmste Entscheidung ist, nichts zu tun, denn dies bedeutet, sich in passives Ausgeliefertsein zu begeben.

Samuel Beckett hat sehr treffend formuliert (Worstward ho, 1984):
ever tried / ever failed / no matter
try again / fail again / fail better

Die Aborigines haben die Zielverfehlung als Potential zur Verbesserung gesehen: Der Bumerang kommt nur zurück, wenn er die Beute verfehlt hat.

Wehner hat einige Empfehlungen zum Lernen aus Fehlern formuliert:

  • Handlungsalternativen schaffen Erweiterungen der Kompetenz und Performanz (Umsetzung) - je mehr Alternativen, desto umfangreicher die Handlungsmöglichkeiten
  • Tiefere Einblicke in bekannte Abläufe schaffen eine größere Antizipationsweite - je mehr bekannt ist, desto mehr ist vorhersehbar
  • Veränderung von Gewohnheiten ermöglicht Umstrukturierung des Handelns - raus aus dem Trott
  • Organisationsentwicklung bereichert eine betriebliche Lernkultur - Lernen lernen

Dagegen steht etwas, was jeder Organisationsberater und Coach, eigentlich jede/r von uns sehr gut kennt: das Beharrungsvermögen von Menschen und Organisationen. Sie wollen sich nicht verändern.

Hier kommt die große Chance: Fehler irritieren. Fehler durchbrechen den Alltagsrhythmus. Damit können Fehler einen Ausgangspunkt des Lernens bilden. Womit wir wieder bei Samuel Beckett sind: ever tried, ever failed, ... . 

 

Wie können Organisationen aus Fehlern lernen?

Organisationen bestehen aus Menschen. Wie können Menschen als Individuum und als Gruppe(n) aus Fehlern lernen?

Wehner schlug dazu vor:

  • Nicht tabuisieren
  • Lernen unterstützen durch
      . Dialog
      . Fallkonferenzen
      . Prozessorientierte Instrumente im Qualitäts- und Risikomanagement wie: Failure Mode and Effects Analysis FMEA[*] ("Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse" oder kurz "Auswirkungsanalyse") und Corrective and Preventive Action CAPA ("Korrektur- und Vorbeugemaßnahme") [Wikipedia, de, 2023]
  • Fehlerfreundliche Führungsatmosphäre mittels
      . Partizipativer, Dialog orientierter Führung
      . Fall und Ereignis bezogenem Feedback

In Medizin und Pflege gibt es dazu eine lange Tradition: die gemeinsamen Visiten.


Wehner (2023) und andere wie  Weick/Sutcliffe (2003) beschreiben in ihren Aufsätzen und Büchern, wie wichtig es ist, zunächst Fehler zu verstehen, um dann Handlungsalternativen entwickeln zu können, also aus Fehlern lernen zu können.

Sie fragen: Warum hat Handlung X zum Zeitpunkt Y für den Handelnden N Sinn gemacht?

Für ihre Handlungen formulieren Menschen Ziele. Dazu gehen sie von Annahmen aus. Hans Vaihinger hat in seinem Buch "Die Philosophie des Als Ob" dazu die Frage formuliert: "Wie kommt es, dass wir mit bewusst falschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen?" (1922, 7. und 8. Auflage, Seite XII). Daraus ergibt sich für Vaihinger: Wahrheit ist ein zweckmäßiger Irrtum.

Weick und Sutcliffe entwickelten daraus Strategien für den Umgang mit dem Unerwarteten ("Managing the Unexpected" 2003). Hilfreich ist dabei die Haltung, alles zur erwarten, nicht enttäuscht zu sein und an Abweichungen interessiert zu sein. Sie empfehlen zum Beispiel:

  • Konzentration auf Fehler
  • Abneigung gegen triviale Erklärungen
  • Sensibilität für innerbetriebliche Abläufe
  • Streben nach Flexibilität
  • Respekt vor fachlichem Wissen und Können

Genau an Letzterem mangelt es insbesondere Ärzten, sowohl in Bezug auf den eignen Berufsstand, wenn es um andere Fachgebiete geht, als auch in Bezug auf andere Berufsgruppen.

Ich war sehr froh, dass Professor Wehner hier deutliche Worte gefunden hat. Daran müssen Ärzte arbeiten.

Es kann nicht angehen, dass Radiologen als Fotografen bezeichnet oder Internisten als diejenigen beschrieben werden, die alles wissen, aber nichts können. Und auch und gerade der Umgang mit Krankenschwestern und Krankenpflegern darf nicht beim Doctor-Nurse-Game stehen bleiben (Blog 16 Mai 2012; Buch Menschen).

 

Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel: Verantwortung tragen

Wehner schlug in seinem Vortrag dazu vor:

  • Von individueller zu kollektiver Intelligenz
  • Vom Experten zur Intuition von Expertenzirkeln
  • Von Stabilitätserwartungen zur Instabilitätsgestaltung
  • Von funktionierenden zu lernenden Arbeitssystemen
  • Von hierarchisierenden zu dynamischen Regelsystemen
  • Vom Anweisen zum Überzeugen der Mitarbeitenden
  • Von der individuellen Entscheidung zur partizipativen Problemlösung und mitverantwortlichen Umsetzung

Damit lassen sich - so Wehner - "pluralistische Ignoranz" und "Verantwortungsdiffusion" verringern.

 

Risiken managen

Wie können Einrichtungen im Gesundheitswesen mit Risiken umgehen und die geringstmögliche Rate an vermeidbaren unerwünschten Ereignissen erreichen?


Gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches Risiko- und Qualitätsmanagement sind unter anderem:

  • wahrnehmbare Führung
  • Ziele und Strategien der Führung sind allen Mitarbeitern bekannt
  • akzeptable Kriterien
  • planvolles Vorgehen
  • Messen und Lernen sind positiv besetzt

Ein Beispiel soll zeigen, dass nicht die Frage "Wer ist Schuld?" sondern "Was hat zu diesem Fehler, besser zu diesem vermeidbaren unerwünschten Ereignis geführt?" Krankenhäuser weiter bringen kann.


Ein Patient stellt sich mit Schmerzen in Schulter und Arm in der Notaufnahme vor. Ein Orthopäde untersucht ihn und stellt keine behandlungsbedürftigen Probleme am Bewegungsapparat fest.
Am Folgetag wird der Patient wieder aufgenommen. Die Untersuchung und Therapie im Herzkatheterlabor kann sein Leben nicht mehr retten. 

 

Verschlüsse der Herzkranzgefäße und Herzinfarkte können als Symptom Schmerzen in Schulter und Arm auslösen. Die Schmerzen müssen nicht immer typisch ausstrahlend sein.

Wie es NICHT laufen sollte: Über diesen Fall wird nicht gesprochen, der Orthopäde gemieden und allein gelassen.

Wie es laufen sollte: Die Akteure hinterfragen gemeinsam ihr Selbstverständnis und die Abläufe in der Notfallambulanz. Sie reorganisieren ihre Abläufe, beispielsweise in einer mehr interdisziplinär ausgerichteten Diagnostik und Therapie.

Was helfen kann: ein interner oder externer Moderator, zum Beispiel im Rahmen einer bereits eingerichteten oder spätestens jetzt einzurichtenden Supervision oder Coaching.

 

Hindernisse für das Risikomanagement

Das größte Hindernis für ein erfolgreiches Risikomanagement ist die Steuerung eines Krankenhauses ausschließlich über ökonomische Kennzahlen, zum Beispiel über Kosten und Erlöse.


Ein häufiger Fehler ist dabei, dass Krankenhausleitungen auf den Kostenfaktor Personal statt auf die Ressource Personal sehen. Ohne Pflegepersonal und Ärzte gibt es die Kernleistung Patientenversorgung im Krankenhaus nicht.

Die Steuerung sollte sich an den medizinischen und pflegerischen Leistungen orientieren. Diese lassen sich als einzelne diagnostische, therapeutische oder pflegerische Leistungen oder Leistungspakete definieren, zum Beispiel körperliche Untersuchung, Geburt oder Decubitusprophylaxe (Verhindern von Hautschäden durch zu langes Liegen auf einer Körperstelle). Oder auch in größeren Prozessen, den Patientenpfaden.

 

Fragen fragen und Verantwortung tragen

Das Selbstverständnis von Führungskräften entscheidet über ihre Art der Kommunikation. Chefärzte geben Antworten - oder? Konferenzteilnehmer stellen Fragen, an sich selbst und an ihre Kollegen. So auch auf diesem Forum.


Ein partizipativer, reflektierender Führungsstil fördert den von Wehner geforderten Paradigmenwechsel.
Verantwortung tragen heißt Entscheidungen treffen wollen. Entscheidungen sind der Ausgangspunkt von Handlungen. Ohne Handlung verpufft eine Entscheidung.
Je geringer die Auswirkungen einer Entscheidung desto weniger wichtig ist die Entscheidung und desto geringer ist die Zumutung, diese Entscheidung treffen zu müssen.
Je kleiner der Handlungsspielraum, desto geringer ist die Entscheidungsfreiheit und desto geringer ist die Verantwortung.

 

Wehner hat dies in seinem Vortrag ungefähr so zusammen gefasst:
Verantwortung braucht

  • Handlungsspielraum
  • Entscheidungszumutungen
  • (hohes) Folgerisiko

Sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter müssen Verantwortung tragen, denn sonst droht ein Verkriechen in der Gruppe. Die Aufgabe ist klar. Das Bewusstsein über ihre Bedeutung ist klar - und der Tenor lautet: Man müsste mal ... .

 


Der Psychologe Philip Zimbardo (2004) hat gezeigt wie im Übergang von Individuum zu Gruppe zur Masse höhere kognitive Prozesse ab- und niedrige zunehmen. Verkürzt: je mehr wir sind, desto dümmer (und rücksichtsloser) werden wir - doch es gibt Möglichkeiten, dies zu verhindern. 

 

Was zu tun ist

In der Podiumsdiskussion des 11. ZQ-Forums Patientensicherheit und Risikomanagement stellten Führungskräfte aus verschiedenen Krankenhäusern Maßnahmen vor, die sie bereits erfolgreich in ihren Organisationen um- und einsetzen.

 

M und M-Konferenz - Vorbildfunktion von Führungskräften

Einmal pro Woche mittwochs, von 8 Uhr bis 9 Uhr.

Das funktioniert?
Ja, auch wenn es lange Widerstände gegeben habe und ein fortdauernde Überzeugung brauche.
Diese Stunde, die eine der lebhaftesten im Wochenverlauf eines Krankenhauses ist, sei die Stunde, in der die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass zahlreiche Ärzte (und Pflegende, hoffe ich) teilnehmen.
Dabei werde auch jeweils explizit ein Fall besprochen, in dem es um eine Zielverfehlung einer Führungskraft gehe, sei es Ober- oder Chefarzt.
Damit solle unter anderem sicher gestellt werden, dass die Führungskräfte ihre Vorbildfunktion leben.

 

Apotheker als Ansprechpartner

Die Anzahl der Interaktionen und Nebenwirkungen von Medikamenten nimmt mit der Anzahl der verordneten Medikamente stark zu. Gerade Krankenhausapotheker und Pharmakologen haben hierzu ein umfassendes und vielleicht auch aktuelleres Wissen als so mancher Kliniker.

Ein enger, in den Alltag integrierter Austausch verringert vermeidbare unerwünschte Ereignisse.

 

Interdisziplinäre Visiten auf der Intensivstation

Sich jeden Morgen über die Ereignisse der Nacht auszutauschen, ist lange Tradition in Medizin und Pflege. Dabei kommen auch und gerade die unerwünschten Ereignisse zur Sprache. Hier gilt wieder,  die Frage zu untersuchen "Was hat zu diesem Fehler, besser zu diesem vermeidbaren unerwünschten Ereignis geführt?" und nicht etwa "Wer ist Schuld?" oder gar "zu blöd". Stichwort: Respekt.

 

Integration des Themas "Fehlerkultur" in die Fortbildung

Zum Beispiel in hausinternen Führungskräfteworkshops einmal im Jahr, um die Wachsamkeit für dieses Thema zu stärken.

 

Fazit

Dieses Symposium in Hannover hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir es im Gesundheitswesen schaffen können, "Elche zu bändigen", also konstruktiv mit den Themen Macht, Karriere, Beziehungen und vor allem mit Fehlern, den vermeidbaren unerwünschten Ereignissen umzugehen.


Dabei braucht es in meinen Augen (mindestens) sechs "Netze" mit denen wir "Elche" fangen können:

  • mehr Personal, vor allem in der Pflege
  • weniger (Doppel-)Dokumentation
  • Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation
  • Compliance + Commitment, also Mitwirkung und Engagement aller Akteure (90 % wären schon sehr gut)
  • Respekt und Wertschätzung
  • Rhythmus: die verschiedenen Akteursgruppen - Ärzte, Pflege und andere Gesundheitsprofis, Patienten, Angehörige, Verbände, Versicherungen, Hochschulen, Firmen - müssen sich auf die Sprache, die Werte und das Tempo der anderen einlassen. Der Anthropologe Edward T Hall hat dazu ein sehr schönes Buch geschrieben: "The Dance of Life" (Anchor Books 1983).

Christa Weßel - Montag, 20. Oktober 2014 

Quellen

[hinzugefügt am 07 Januar 2018; aktualisiert hier und im Text des Blogs am 14 August 2013; siehe auch Blog Work in Progress: Kultur ... aber sicher vom 14 August 2023]

[25 Nov 2023: Schreibfehler korrigiert]