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Gestalt_en wahrnehmen

Peers, Seminar und wieder drei Bücher: Laura Perls, Buber, Watzlawick

Treppengeländer

Zurück aus Berlin von unserem ersten Peergruppentreffen, der Lerngruppe in unserer Gestalt-Ausbildung. Erster Tag, Samstag. "Bevor wir das nächste Buch besprechen, möchte ich eine Pause." - "Wie spät ist es denn?" - "Oh, halb elf." Abends.

Der Tag verging wie im Flug. Praktische Übungen, Literatur besprechen und durcharbeiten. Dazwischen auch einmal Essen gehen, am Landwehrkanal entlang bummeln und in einem Café eierfreien Kuchen finden. Ganz einfach: "Haben Sie vegan?" Natürlich, in Berlin.

Wir sind zu viert, eine wunderbare Mischung aus Typen und Feldern, in denen wir arbeiten und uns bewegen. Diese Treffen und unsere Zusammenarbeit zwischen unseren Treffen und den Seminaren sind die vierte Säule der Gestalt-Ausbildung [Blog vom 21.02.2016]. Unser Treffen an diesem Wochenende widmete sich dem Thema "Übergang".

Am Montag habe ich unsere interne Dokumentation erstellt, heute sind Buchbesprechungen dran. Dabei fällt mir auf, dass ich zwar Gestalt in Aktion im März [Blog vom 07.03.2016], aber nicht das Seminar "Wahrnehmung" im Februar reflektiert habe. Dies hole ich hiermit nach.

 

Wahrnehmung

Gestalt und qualitative Forschung sind einander sehr nahe. Menschen wie Kurt Lewin (Action Research) und Philosophen wie Martin Buber (Ich und Du) haben sowohl Erkenntnisse zur Kommunikation, zur Gruppendynamik und zu Organisationen entwickelt als auch Wesentliches zur Gestalt beigetragen. (Sie erinnern sich vielleicht: ich nutze einfach nur den Begriff "Gestalt" ohne Zusätze wie -Psychologie, -Therapie, -Beratung oder -Coaching.)

 

Nach der Einführung in Gestalt im Oktober und dem Startseminar im Dezember unseres Kurses ging es im Februar-Seminar um Wahrnehmung. Der Kreislauf, den wir dort kennenlernten, übten und reflektierten, besteht aus Wahrnehmen, Beschreiben, Deuten, Bewerten und wieder Wahrnehmen, ...

In der qualitativen Feldforschung beginnt der Zyklus mit Fragen, es folgen Beobachtung und Zuhören, der dritte Schritt besteht aus der sorgfältigen Aufzeichnung und Beschreibung, der vierte umfasst die Auswertung und der fünfte die Interpretation. In der Beratung und im Consulting kann die Empfehlung von Maßnahmen hinzukommen. Und dann geht es wieder los: Fragen, ... ([25.01.2018] Band Entdecken der Buchreihe Elche fangen ..., unter anderem 1.4 "Wurzeln: Eine kurze Geschichte über das Fragen").

In Gestalt ist dabei Achtsamkeit von zentraler Bedeutung. Klient und vor allem der Begleiter müssen eine Balance finden aus achtsamer Beschreibung und Bewertung und deutlicher und klarer, also nicht unbedingt "schonender" Wortwahl. Wenn dies mit Respekt und Wertschätzung geschieht, ist es - finde ich - einfach. Wichtig sind, wie in gutem Consulting auch, Vertrauen und eine geschützte Atmosphäre.

In Gestalt - und anderen Beratungssettings - untersuchen Klient und Begleiter auch, worum es gehen soll: Will ich einfach verstehen - und es dann so stehen lassen und damit leben? Will ich verändern - vor allem mich selbst, meine Muster?

In ihren Büchern haben Johannes Schneider (Supervision) und auch Antje Abram (Gestalttherapie) hierzu interessante Ausführungen gemacht [Blog vom 21.02.2016]. Nun zu den anderen Büchern, die seitdem dazu gekommen sind.

 

Kontakt ist Begegnung

Lore, oder wie sie später in den USA hieß, Laura Perls (1905 bis 1990) begründete mit Fritz Perls die Gestalttherapie. Sie studierte in Frankfurt am Main zunächst Jura und wechselte nach drei Jahren in die Philosophie und Psychologie. Zu ihren Lehrern und Professoren zählen Max Wertheimer, Kurt Goldstein und Adhémar Gelb (ihr Doktorvater) sowie Edmund Husserl, Paul Tillich und Martin Buber.


Das Buch "Leben an der Grenze" ist eine Sammlung von Artikeln, die oftmals aus Vorträgen entstanden sind. Es gibt auch Vorlesungsnotizen, das Transkript eines Workshops und am Schluss ein Gespräch mit Milan Sreckovic, dem Herausgeber des Buchs. Dieses 1989 zum ersten Mal erschienene Buch gibt einen guten Überblick über die ganze Fülle des Weges, der Arbeit und der Erkenntnisse (auch Fühlen ist Erkenntnis) von Laura Perls.

Besonders gut hat mir der Artikel "Erziehung zum Frieden" gefallen. Es geht um die positive Kraft, die Aggressivität entwickeln kann. Es kommt darauf an, den Kindern - und anderen Lernenden - Raum zu geben, etwas aufzunehmen, zuzubeißen, zu kauen, zu verdauen und wieder von sich zu geben. Entweder gleich zu Beginn, weil es nicht gut ist oder im ganz normalen Verdauungsverlauf. Kinder und auch Erwachsene brauchen Zeit und Freiheit dafür. Sie ruhigzustellen mit sinnlosen Benimmregeln ist ein sicherer Weg, ihnen das Lernen und die eigenständige Entwicklung zu verbauen.

Auch Aspekte und Konzepte wie Geben und Nehmen, Stützung (Support), Angst und Furcht (sehr gute Matrix) sowie Commitment bilden einen hervorragenden Überblick und außerdem einen Einstieg in das bekannteste Werk ihres Lehrers, des Philosophen Martin Buber: "Ich und Du". Zu ihm fand ich vor allem einen Zugang, weil Laura sagte: "Was Buber 'Begegnung' nannte, nennen wir Kontakt, d.h. die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem anderen als den anderen." [Perls 1989/2005, S. 179]. Dies kann nonverbal und vor allem auch im verbalen Dialog geschehen [25.01.2018] Band Werkzeuge der Buchreihe Elche fangen ..., Abschnitt  "Dialog und Diskussion" und Blog vom 10.01.2012]

 

Vom Ich, vom Du und vom Es

Der Dialog bei Martin Buber (1878 - 1965). Pu-uhu, schwere Kost. Erleichternd war für mich neben Laura Perls Erläuterungen das Nachwort von Bernhard Casper. Empfehlung: zuerst lesen, dann Bubers Nachwort und dann "Ich und Du", den ersten, den zweiten und wenn es dann noch geht, den dritten Teil.

Das Buch ist aus einer kurzen Vorlesungsreihe über das Thema "Religion als Gegenwart"  entstanden, die Buber am Lehrhaus in Frankfurt am Main vom Januar bis März 1923 hielt. Einer der Zuhörer brachte "Das Du" ein. Buber fand damit einen Zugang in seiner Auseinandersetzung mit der Beziehung, die Wirklichkeit überhaupt erlebbar macht.

Und jetzt wird es spannend. Du kann ein anderer Mensch, Natur oder ein Kunstwerk sein. "Beziehung ist Gegenseitigkeit." (Buber, Reclamausgabe 2014, S. 16). Beziehung ist das Dazwischen. Was nehme ich wahr? Die Kaffern grüßen andere mit "Ich sehe dich!" (S. 19) Was passiert zwischen dem Ich und dem Du? Durch die Beziehung - so Buber: "Der Mensch wird am Du zum Ich." (S. 28). Anders gesagt: Ohne Beziehung kein Ich, kein Mensch.

Beziehungen oder auch Kontakt zeichnen sich dadurch aus, dass sie beginnen, enden und die Beteiligten sich dabei verändern. Das ist auch bei Atomen so (Danke an den Physiker, mit dem ich mich kürzlich darüber austauschen konnte.)

Dann gibt es da noch das Es. Bitte nicht mit dem Psychoanalytischen Es von Freud verwechseln. Buber meint mit Es das Gegenständliche, die Erfahrungswelt. Dinge haben Summen von Eigenschaften, lassen sich einen räumlichen-zeitlich-ursächlichen Zusammenhang stellen, also ordnen und messen (S. 30). Wenn der Kontakt zu einem Menschen, zu einem Baum oder einem Bild endet, werden sie zum Es.

Bestimmt haben Sie das schon mal erlebt. Sie sind einem Menschen ganz nahe in einem Gespräch, es findet ein Austausch statt, der über Fakten deutlich hinausgeht. Es geschieht etwas zwischen Ihnen. Das muss nicht nur positiv sein. Sie können sich auch streiten. Buber schreibt "Doch der unmittelbar Hassende ist der Beziehung näher als der Lieb- und Hasslose." (S. 17).

Und dann verändert sich etwas im Gespräch. Sie wechseln das Thema, oder etwas anderes tritt in das Gespräch. Andere Menschen kommen dazu, ein Geräusch taucht auf oder Sie beide verändern im Gespräch Ihren Ort. Und der Kontakt ist vorbei. Sie selbst werden für den Anderen zum Es, der Andere wird zum Es für Sie.

Das ist nicht traurig oder schlimm. Kontakt oder eben im Buber'schen Sinn Beziehung ist zeitlich begrenzt. Manchmal sind es nur Sekunden, manchmal Minuten. Für mich ist es wie Atmen. Einatmen. Kontakt. Du. Ausatmen. Erfahrung. Es. Das Eine funktioniert nicht ohne das Andere.

Nach Buber brauchte ich etwas Leichteres.

 

Die Situation ist hoffnungslos aber nicht ernst

So lautet die direkte Übersetzung des im deutschen Sprachraum als "Anleitung zum Unglücklichsein" bekannt gewordenen Buches von Paul Watzlawick (1921 - 2007). Watzlawick wird gerne auch mit dem ersten seiner fünf Axiome zur Kommunikationstheorie zitiert: "Man kann nicht nicht kommunizieren."

Watzlawick hat systemisch gearbeitet, vor allem in der Familientherapie. Von 1960 bis 2007 lebte er in Kalifornien und hat in der Palo-Alto-Gruppe und an der Stanford University geforscht und gelehrt.

Zurück zum "Pursuit of Unhappiness", wie der Untertitel des Buches lautet, in dem Sie auch die Geschichte mit dem Hammer finden. Sie können anhand hervorragender Beispiele und Anleitungen lernen, wie Sie a) ganz allein und nur aus sich heraus unglücklich werden und bleiben und b) wie Sie Beziehungen beginnen, pflegen und beenden sollten, damit es Ihnen und den anderen unter Garantie schlecht geht. Die Geschichten vom verlorenen Schlüssel, den der Betrunkene unter der hellen Straßenlampe sucht und nicht etwa dort, wo er ihn zuletzt in der Hand gehabt hat, selbsterfüllende Prophezeiungen oder auch "Warum sollte mich irgendjemand lieben?" Einfach klasse.

Zum Titel seines Buches hat Watzlawik die Mentalität der Menschen in seinem Geburtslandes inspiriert: "Britain, as one bon mot claimed, loses every battle except the decisive ones; Austria loses every battle except the hopeless ones. ... The great empire is now a tiny country, but absurdity has remained its inhabitants' outlook on life, and the author of these pages is no exception. For all of them, life is hopeless, but not serious." (Watzlawick 1983/1993, p 9)

 

Ausblick

Schon in zwei Tagen geht es weiter mit Gestalt. Wir treffen uns zu einem Wochenendseminar unseres Kurses in Tübingen. Ich freue mich auf die anderen und bin gespannt, wo wir Hammer suchen werden und welche Prophezeiungen sich wie erfüllen werden.


Christa Weßel - Mittwoch, 13. April 2016

Die hier besprochenen Bücher

  • Perls L. Leben an der Grenze: Essays und Anmerkungen zur Gestalt-Therapie. Bearbeitung: Sreckovic M, Bearbeitung und Übersetzung: Fuhr R. 3. Auflage. EHP Edition Humanistische Psychologie 2005. ISBN-13: 978-3926176110
  • Buber M. Ich und Du (Reclams Universal-Bibliothek). Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag 1995. ISBN-13: 978-3150093429
  • Watzlawick P. The situation is hopeless but not serious. The pursuit of unhappiness. New York, Norton 1993. ISBN-13: 978-0393319214

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