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Literatur vom Feinsten

E. Annie Proulx, Anne Tyler und Siri Hustvedt

In dieser Reihenfolge sind sie mir zum ersten Mal begegnet. Nicht persönlich, ihre Bücher. Und wie es so ist mit Büchern und Menschen: aus Zufallsbekanntschaften entstehen Respekt, Zuneigung und Freude. Im Fall dieser drei Frauen sind es ihre Bücher, die dies bei mir entstehen lassen.

 

E. Annie Proulx (' Buch) muss mir auf einem Büchertisch in Berlin begegnet sein, so sieht jedenfalls meine Notiz aus dem Jahr 1998 im Taschenbuch "Schiffmeldungen" aus. Wann ich Anne Tyler ('s Buch) das erste Mal begegnet bin? Ich nehme an, ebenfalls in den 1990ern. Im Mai 2022 habe ich in Oldenburg in der Nachbarschaft in einer Bücherkiste "Atemübungen" und auch "Was ich liebte" von Siri Hustvedt gefunden. Sie (ihre Bücher) habe ich durch ihren Mann kennengelernt. Über die Bücher von Paul Auster und ein Interview mit ihm in einer großen Wochenzeitung vor etlichen Jahren. Er sagte im Interview ungefähr über seine Frau: "Sie ist besser als ich." So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Vielleicht. Ich finde beide klasse. Anders trifft es in meinen Augen eher. Zurück zu den drei Frauen.

 

Da es in Oldenburg sehr gute Bibliotheken gibt (Uni, Landesbibliothek und Hochschule im Verbund und die Stadtbibliothek) ist es möglich, Lieblingsautor:innen immer wieder im Original zu genießen, auch wenn sie nicht im eigenen Bücherregal stehen. Noch nicht ... hoffe ich.

 

Die Gesamtwerke der Autorinnen finden Sie leicht online in Datenbanken und auch bei Wikipedia. Betrachten möchte ich heute meine Lieblingsbücher dieser drei Lieblingsautor:innen. Das könnte ich ja auch mal mit den Lieblingsautoren machen: Paul Auster ("Invisible" 2009, dt. "Unsichtbar"), Ernest Hemingway ("A Moveable Feast" 1964, dt. "Paris, ein Fest für's Leben"), John Steinbeck ("East of Eden" 1952, dt. "Jenseits von Eden"). Alles Amerikaner:innen. Warum dies so sein könnte, das ist eine andere Reflexion. Zurück zu einigen Büchern der drei Frauen.

 

E. Annie Proulx

geboren 1935 in Norwich, Connecticut. Uni-Stationen: Vermont und Montreal. Journalistin, Schriftstellerin. Ihr erstes Buch, "Heartsongs", erschien 1988. Da war sie 53 Jahre. 1994 Pulitzerpreis für "The Shipping News". Außerdem aus ihrem Werk besonders bekannt ist die Kurzgeschichte "Brokeback Mountain", zuerst veröffentlicht im  The New Yorker am 23 Oct 1997.

 

"The Shipping News", 1993, deutsch "Schiffsmeldungen". Das Buch ist genial. Es erzählt die Geschichte eines Mannes, seiner Familie und der Menschen, denen er auf Neufundland begegnet. Anlass des Umzuges mit seinen beiden Töchtern und seiner Tante auf diese karge Insel im Atlantik vor der Küste Canadas ist der Tod seiner Frau. Der Job, den er machen kann - er ist kein Fischer und kein Handwerker - ist, Schiffmeldungen für die örtliche Zeitung und noch dies und das zu verfassen. Das Haus, in das er und seine Familie ziehen, ist etwas ganz Spezielles, ebenso wie die Menschen, denen er begegnet, auch einer Frau, und ebenso wie die Insel, das Meer und das Wetter ...

 

Anne Tyler

geboren 1941 in Minneapolis, Minnesota, aufgewachsen in Raleigh, North Carolina, Uni-Stationen: Duke University und Columbia University, lebt in Baltimore, Maryland, verheiratet mit dem Psychiater Taghi Modaressi (bis zu seinem Tod 1997), zwei Töchter, erster Roman veröffentlicht 1963, mit 22 Jahren, 1989 Pulitzerpreis für "Breathing Lessons" [Quellen: "about the author" in "Dinner at the Homesick Restaurant",  Ballantine Books 1982, Ausgabe 1996, und in "The accidental tourist", Knopf 1989].

 

"Breathing Lessons", 1988, deutsch "Atemübungen". Ein Tag im Leben eines Ehepaares auf der Fahrt zur Beerdigung des Ehemannes einer Freundin. Und ihr Leben, in Rückblicken aus beiden Perspektiven, der der Frau und der des Mannes. Wunderbar.

 

"Dinner at the Homesick Restaurant", 1982, deutsch: "Dinner im Heimweh-Restaurant". Eine Frau, die ihre drei Kinder allein versorgt, großzieht, erzieht? Welches ist das richtige Wort dafür? Diese Frage tauchte jedenfalls gerade auf, als ich die Situation dieser Familie beschreiben wollte. Die Kinder und Jugendlichen haben sich auch selbst "erzogen" und "versorgt" und sind "groß geworden". Denn diese Frau hat helle Seiten und auch ganz finstere. Und wieder beschreibt Anne Tyler die Menschen mit Humor, Respekt und liebevoll. Wieder tauchen die Lesenden in die Geschichte aus mehreren Perspektiven ein, aus der der Frau und aus der der beiden Söhne und der Tochter. 

 

"The Accidental Tourist", 1989, deutsch: "Die Reisen des Mr Leary". Dieses Mal aus einer Perspektive, aus der Perspektive von Mr Leary. Sein Sohn wurde knapp ein Jahr vor Beginn dieser Geschichte ermordet. Mit 12 Jahren. In einem Burger-Restaurant, während eines Ferienlagers, von einem Irren. Und dann? Mr Leary schreibt Reiseführer für Geschäftsleute. Wie sie sich auf Reisen fast wie zuhause fühlen können, am besten gar nicht merken, dass sie ihre Stadt und manchmal auch ihr Land verlassen. Mr Leary reist nicht gerne und ist daher aus Sicht seines Verlegers hervorragend dafür geeignet, solche Reiseführer zu schreiben. Ja, Mr Leary ist speziell. Sehr strukturiert. Seine Frau, die wie er den Tod ihres gemeinsamen Sohnes kaum verkraftet, ist ganz anders als er. Und wie es so häufig nach dem Tod eines gemeinsamen Kindes passiert: die Belastung für die gemeinsame Beziehung ist so groß, dass sie zerbricht, zunächst und dann passiert noch mal etwas. Von Bedeutung sind dabei ein Hund, eine Hundepension, eine Hundetrainerin, die Schwester, die Brüder und der Verleger von Mr Leary, einige Nachbarn und ein Restaurant. Ort der Handlung, wie in den beiden anderen Büchern vor allem Baltimore. Die Stadt, in der Anny Tyler seit Mitte der 1960er lebt.

 

Siri Hustvedt

geboren 1955 in Northfield, Minnesota, in einer norwegischen Familie, St. Olaf College ebenfalls Northfield, Minnesota, Studium der Literatur und Promotion an der Columbia University, NYC. Sie wollte unbedingt nach New York City.

 

Ihr Liebe zu dieser Stadt drückt sie in ihren Büchern und ihren Essays immer wieder aus. So auch in "What I loved" und "The Sorrows of an American".

 

"What I loved", 2003, deutsch "Was ich liebte". Eine Liebe, noch eine Liebe, eine dritte und eine vierte und fünfte. Und Freundschaften. Drei der Lieben sind Lieben zwischen Mann und Frau. Der vierte und der fünfte Mensch, die hier in diesem Buch geliebt werden, sind Kinder. Söhne. Auch in diesem Buch kommt ein Kind zu Tode. Dieses Mal durch einen Unfall. Wirklich ein Unfall? Siri Hustvedt erzählt aus der Perspektive des Kunsthistorikers Leon Hertzberg von diesen Lieben, von Verlusten, von Neuanfängen und von offenen Enden. 

 

"The Sorrows of an American", 2008, deutsch "Die Leiden eines Amerikaners". Ein Psychiater, dessen Ehe vor nicht allzu langer Zeit zu Ende ging. Der unter der Trennung leidet, vor allem unter der Einsamkeit. Der seine Arbeit liebt. Eine junge Frau, die mit ihrer Tochter in das Erdgeschoss seines Hauses in Brooklyn zieht. Seine Schwester, Schriftstellerin, die mich stark an Siri Hustvedt erinnert. Eine Kollegin, mit der er in aller Freundschaft ins Bett geht. Eine alte, erfahrene, empathische Psychiaterin, die seine Supervisorin ist. Und Minnesota, die Farm, das Leben dort, die norwegischen Einwanderer, die Kultur, und warum er und seine Schwester nach New York City gegangen sind. 

 

Menschen, Städte und die Kunst des Übersetzens

Anne Tyler, E. Annie Proulx und Siri Hustvedt versetzen sich hervorragend in Frauen und Männer, in ganz "normale" Menschen, die bei E. Annie Proust und noch stärker bei Anne Tyler auch recht skurril sind. Und stets sind sie liebevoll und mit Respekt und Humor gezeichnet. 

 

In den hier vorgestellten Büchern von Anne Tyler und Siri Hustvedt spielen die Städte, in denen diese Frauen leben, eine Hauptrolle: Baltimore und New York City. Siri Hustvedt drückt ihre Liebe zu New York auch poetisch und humorvoll in den Essays aus, die im Buch "A Plea for Eros", versammelt sind. 

 

"The Shipping News", "Breathing Lessons" und "What I loved" habe ich jeweils zuerst vor Jahren in der deutschen Übersetzung gelesen. Meine Hochachtung gilt den Übersetzer:innen. Diese hier und viele andere verstehen ihr Handwerk exzellent: sie übertragen ein Werk und mit ihm den ganz typischen Klang einer Autorin oder eines Autors in eine andere Sprache. Darum freut es mich, dass mittlerweile Übersetzer:innen in Quellenangaben und Buchrezensionen ebenso genannt werden wie die Autor:innen.

 

Sommerpause

Was ich liebe (what I love), ist unter anderem die Möglichkeit, immer wieder in eine Bibliothek gehen (blog 20 Sep 2021) und so wunderbare Bücher mit nach Hause nehmen zu können. Und ich liebe die Wochen des Sommers, in denen "Pause" ist. Pause, weil viele in ihre Urlaube fahren und die Arbeiten in Beratung, Coaching und Verlag weniger sind. "Pause", in denen Zeit für noch mehr Bücher ist. Was sich nicht ändert, ist das Schreiben, das ist immer. Das ist wie Atmen ... und Bücher sind wie Wasser für Herz und Hirn, das wichtigste Lebensmittel.

 

Guten Appetit

 

Christa Weßel - Sonntag, 31 Juli 2022

 

Bücher

Im Folgenden Autor:in, Titel, Ort, Verlag, Jahr. Für die deutschen Ausgaben wenden Sie sich bitte an die analoge oder digitale Buchhandlung Ihrer Wahl. Analog ist schöner, weil persönlich, finde ich ... 

 

Besprochen: 

  • Hustvedt S. What I loved. New York, Henry Holt and Company 2003. (dt.: Was ich liebte) 
  • Hustvedt S. The Sorrows of an American. New York, Henry Holt and Company 2008 (dt.: Die Leiden eines Amerikaners) 
  • Hustvedt S. A Plea for Eros. Essays. New York, Henry Holt and Company 2006.
  • Proulx EA. The Shipping News. New York, Charles Scribner's Sons 1993. (dt.: Schiffsmeldungen) 
  • Tyler A. Dinner at the Homesick Restaurant. New York, Alfred A. Knopf 1982. (dt.: Dinner im Heimweh-Restaurant) 
  • Tyler A. Breathing Lessons. New York, Alfred A. Knopf 1988. (dt.: Atemübungen) 
  • Tyler A. The Accidental Tourist.  New York, Alfred A. Knopf 1989. (dt.: Die Reisen des Mr Leary) 

Erwähnt:

  • Auster P. Invisible. New York, Henry Holt and Company 2009. (dt. "Unsichtbar")
  • Hemingway E. A Moveable Feast. 1964. The restored edition. New York , Scribner 2009. (dt. "Paris ein Fest für's Leben")
  • Steinbeck J. East of Eden. New York, Viking Press 1952. (dt. "Jenseits von Eden")