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Pandemie ... Nachgedacht von Alexander Solloch

Vorbemerkung der in diesem Fall einen ganzen Text Zitierenden: 

Kennen Sie die Kolumne NachGedacht auf NDR Kultur? Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch denken über Kultur, unser Leben und zum Beispiel auch die Pandemie nach. Hervorragend gelungen ist dies in dieser Woche Alexander Solloch. 

 

Da ich den Beitrag von Alexander Solloch so gut und so wichtig finde, dass ich sicher sein möchte, dass ich den Text auch in ein paar Jahren lesen kann (blog auch als Bibliothek), zitiere ich ihn hier in voller Länge. 

 

NachGedacht: Eine andere Melodie

Wir haben die Pandemie. Wir haben Maßnahmen. Wir haben Hetze von rechts. Aber etwas fehlt - meint Nachdenker Alexander Solloch.

 

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4 Min

 

von Alexander Solloch

 

"Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz!": An diese Feststellung des Anti-Kommunisten Winston Churchill wollen wir doch gern einmal erinnern (freilich unter rosinenpickendem Verzicht auf den weniger angenehmen zweiten Teil seines Spruchs), und wir wollen diesen Satz auch gern ein bisschen entschärfen für diese unter Reizdarm leidende Zeit. Sagen wir also: "Wer mit 20 nicht links ist, hat kein Herz!"

 

Ja, das klingt gut, das ist dynamisch, das hat Zukunft - nur leider überhaupt keine Gegenwart. Die politischen Kräfte, die man so ganz grob als links oder immerhin linksgesprenkelt ansehen könnte, machen den 20-Jährigen zur Zeit kein attraktives Angebot. Die Pandemie, aber auch unser Umgang mit ihr bringen sie gerade um ihre schönsten Jahre.

 

Eine linke Lebensmelodie

Wie wir im Angesicht von Corona sprechen und handeln - das müsste doch Gegenstand einer Kritik sein können, die nicht rechtsradikal, nicht von antisemitischem Verschwörungswahn, nicht von Dummheit und Menschenfeindlichkeit durchsetzt ist. Kritik kann man doch nicht den Hetzern überlassen (zu deren Treiben das edle Wort "Kritik" natürlich auch überhaupt nicht passt)! Wie kann es denn möglich sein, dass Linke größtenteils nur noch beim Kopfnicken und Durchwinken anzutreffen sind?

 

Was ist denn eigentlich "links"?  Bedeutet es nicht: antiautoritär, kritisch und zweifelnd der - nicht ganz zu Unrecht unter dem Grundverdacht abgehobener Lebensferne stehenden - Exekutive auf die Finger zu schauen, getragen von der Überzeugung, dass jeder sein Auskommen haben soll, darüber hinaus aber Menschsein nicht vom Drang nach Geld bestimmt ist, sondern vom Willen, sich über alle Grenzen hinweg der Schönheit, dem gemeinsamen Lachen, dem Ringen ums bessere Leben hinzugeben? Leicht utopisch im Hinblick auf die Zukunft und immer skeptisch im Hinblick auf die Gegenwart - das könnte eine linke Lebensmelodie sein, die sich womöglich mit dem Grundgefühl vieler Menschen ganz gut vertrüge.

 

Ein paar drängende Fragen

Also etwa folgendermaßen, grob und beispielhaft: Corona ist eine schlimme Sache, und wir alle sind zu Vorsicht und Achtsamkeit aufgerufen. Keiner hat tatsächlich gesichertes Wissen über das einwandfrei richtige Vorgehen, zu Geschrei und Gebrüll besteht also kein Anlass. Aber es ist geboten, ein paar drängende Fragen inbrünstig und offen zu diskutieren.

 

Für viele war es ein markerschütternder Schock, als sie vor knapp zwei Jahren erleben mussten, wie schnell entscheidende Grundlagen freiheitlichen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt werden konnten. Wie stellen wir denn sicher, dass staatliches Handeln nicht willkürlich auswuchert? Welchem Wahn unterlagen zum Beispiel Behörden und Ordnungshüter, die im ersten Lockdown Spielplätze abriegelten oder bücherlesende Menschen von Parkbänken vertrieben? Welchen Sinn hatte es, Kultureinrichtungen und Hotels zu schließen oder nächtliche Ausgangssperren zu verhängen - außer allenfalls dem, unbedingte Maßnahmenbereitschaft ins Schaufenster zu stellen? Wie viel Gehör finden in der Not Industriegiganten, wie viel im Vergleich dazu Kleinstunternehmen, Familien, Studentinnen und Studenten? Fällt uns wirklich nichts Besseres ein, als Kindern an dem Ort, an dem sie sich frei entfalten sollen - in der Schule -, das Atmen unter der Maske zu erschweren?  Gehorcht die - wieder einmal sensationell schlecht kommunizierte - Entscheidung des RKI, dass Corona-Infizierte nicht mehr sechs, sondern nur noch drei Monate lang als "genesen" anerkannt werden, tatsächlich allein wissenschaftlichen Notwendigkeiten, oder ist nicht auch ein kleines bisschen schwarze Pädagogik für Ungeimpfte dabei? Verlieren wir nicht mit unserer Besessenheit von Inzidenzwerten die zur selben Zeit ausbrechenden Erkrankungen aus dem Blick, die nicht so leicht zu zählen sind, Depressionen etwa, Burnout, Antriebslosigkeit und Ermattung? Fällt das nicht auch in den Zuständigkeitsbereich des Gesundheitsministers?

 

Wir müssen mit dem Virus leben

Karl Lauterbach hat die Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, sich mehrmals wöchentlich einem Schnelltest zu unterziehen. Weiß er, wie viel Geld, wie viel Zeit so ein Test kostet? Vielleicht wäre es gut, wenn der Minister nicht nur bis tief in die Nacht Studien läse, sondern auch mal mit normalen Menschen spräche. Das Interessante an der Pandemie ist nicht allein das Virus selbst; interessanter sind immer die Menschen, die mit ihm leben müssen.

 

"Leben"? Aber genau! Wir müssen mit dem Virus leben, weil wir es nicht töten können. Wir sind nicht im Krieg, wie manch freudvoller Katastrophist vielleicht meint. "Uns drohen sehr schwere Wochen", raunt Lauterbach. Klar, wir können uns alle vor lauter Unheil in den Maschsee werfen. Aber wie schade wäre es doch, den schönen Frühling 2022 zu verpassen! Wer mit 20, 40, 60 und 80 den Frühling nicht freudvoll erwartet, dem schlägt links kein Herz. Oder?

 

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Schlussbemerkung der in diesem Fall einen ganzen Text Zitierenden: 

Die Kolumne NachGedacht hält noch etliche andere Beiträge bereit. Empfehlung: besuchen, hören, lesen ... 

 

Christa Weßel - Freitag, 21 Jan 2022

 

Die hier zitierten Quellen

weitere Quellen zur Pandemie

Blogrubriken together und Buch- und Filmbesprechungen (weil die Kolumne ein Buch sein könnte ...)

 

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