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Soziotechnik

… Da muss eine Flex her

In Oldenburg lässt es sich sowohl Durchatmen in der Pandemie (blog 07 Jul 2021) als auch soziotechnisch interagieren. Der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour hat es in seiner Actor Network Theory wunderbar beschrieben: Menschen und Artefakte beeinflussen sich gegenseitig, die Menschen vor allem in ihrem Tun. Artefakt: von Menschen (und anderen Lebewesen, zum Beispiel Bibern) hergestellte Werkzeuge, Bauten und andere Gegenstände). Die Akteure in diesem Fall: ein Wäscheständer, ein Möbelhaus, ein Handwerker, eine Flex und die Autorin. 

 

Wieder einmal hatte ich auf den Websites des großen Möbelhauses (früher mit dem Elch) geschaut, ob es den kleinen Wäscheständer gibt, den ich gerne erwerben wollte. "Noch zwei sind hier, in unserer Oldenburger Filiale." Also auf's Rad geschwungen, über die Eisenbahnbrücke und am Bahndamm vorbei in das Gewerbegebiet südlich der Hunte. Das Möbelhaus ist klug. Die Menschen kommen, in der Hoffnung auf den Wäscheständer. Leer, nur noch das Ausstellungsstück ist da. Eine Mitarbeiterin: "Nein, abschrauben können wir das nicht." - "Und wann gibt es ihn wieder?" - Blick in ihren Handheld-Computer: "Anfang Oktober." Und nun kommt die kluge Verkaufsstrategie des Möbelhauses zum Zuge. Die junge Frau, die ebenfalls diesen Wäscheständer wollte, kaufte einen anderen, etwas größeren, und ich wiederum ein anderes Exemplar, das wegen seiner abgerundeten Form gut geeignet war, auch große Decken darauf auszubreiten. Soziotechnik, Teil I.

 

Ganz in Sinne von ein paar Erfahrungen in Südostasien und Frankfurt am Main (die Matratze, lieber Leser, Du weist, wer gemeint ist) und in den Niederlanden (der fliegende Teppich, auch hier wissen einige, was gemeint ist) mit ein paar Stück Bindfäden das Ausklappen verhindern und einen Griff basteln. Los geht's. Wegen der Größe des Ständers schwierig in den Kurven. Und dann passiert es: ein Sturz. Glück gehabt. Die Handgelenke bleiben heil, und ich konnte die besorgte Frage des Fahrradfahrers, der hielt, beantworten mit: "Nichts passiert. Danke! Sie können weiterfahren."  Soziotechnik, Teil II.

 

Nun war dieser Wäscheständer groß. Er hatte "Flügel". Zwei kleinere ausklappbare Teile. Diese störten. Abschrauben? Nicht möglich. Die Haltestifte in den Gelenken waren nicht mit Muttern gesichert, sondern an ihren Enden einfach umgebogen. Da muss eine Flex her. Soziotechnik, Teil III.

 

Zwei Balkone weiter arbeitet ein Handwerker. "Moin!" - "Moin!" - "Haben Sie eine Flex dabei?" - "Ja?!"- "Ich habe hier etwas, vier mal kurz flexen. Könnten Sie? Ich würde mich auch gerne erkenntlich zeigen." - "Ja, allerdings würde ich das gerne  kurz vor Feierabend machen. Es soll regnen. Haben Sie Zeit?" - "Ja, natürlich. Danke!" - "Gut, wo soll ich klingeln?" …

 

Zwei Stunden später war es soweit. "Moin," Handwerker, Mitte bis Ende zwanzig mit Flex in der Hand. - "Moin. Das ist schön, dass Sie kommen. Am besten geht das Flexen wohl auf dem Balkon." - "Ja." - "Ich bin Christa." - "Ich bin A..." Während er werkelte die Idee: ein Biber.

 

Buch aus dem Karton in der Garderobe. Widmung: 

 

Für A...,

Flex-ibel. Danke!

Christa Weßel

Oldenburg 09 Aug 2021

 

Der Handwerker ist fertig. "Soll ich die ["Flügel"] mitnehmen? Ich habe sowieso Bauschutt im Wagen," - "Gerne. Und das ist für Sie." Er guckt. "Mögen Sie Science Fiction Filme?" - "Ja." - "Prima, die sind auch da drin. Und ein Lesezeichen." Der Handwerker erkennt den Schein, der zusammengefaltet wie ein Lesezeichen aus dem Buch hervorragt. "Oh, das ist prima. Ich bin ein Bücherleser." - "Sie sind ein Bücherleser? Wie schön!" - "Ja, ich habe bald Urlaub und dieses Buch werde ich mitnehmen." - "Das ist schön. Viel Freude damit und einen schönen Urlaub." - "Danke!"

 

 

Ein Bücherleser. Es gibt sie. Öfter als ich manchmal annehme. Ich treffe sie in den Bibliotheken der Stadt, des Landes und der Uni. In Cafés (geht ja derzeit wieder) und in Parks. Und es gibt sie auf dem Meer. Von der Vendée Globe 2020/2021 war hier im Blog bereits mehrfach die Rede. Es gibt eine Zusammenfassung. Wunderbar. Und Sie werden ihn sehen. Den Segler, der das Buch "In 80 Tagen um die Welt" von Jules Verne liest, ein echtes Buch. Auch dieser Segler wird ungefähr achtzig Tage unterwegs sein, auf der Regatta um die Welt. Auf einer Hightech-Rennyacht mit einem analogen Buch.

 

Actor Network: Segler und ihre Boote, Handwerker und die Flex, Wäscheständer, Möbelhäuser und Kunden. Der Philosoph Bruno Latour würde in dieser Geschichte sicher noch weitere Akteure finden, Menschen und Artefakte. Sie bestimmt auch.

 

Christa Weßel - Dienstag, 10 Aug 2021

 

Lesestoff

Actor Network Theory (ANT) 

Bruno Latour, Philosoph und Soziologe, prägte in den 1980er Jahren den Begriff Actor Network Theory (ANT), Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 1998). Er schlug vor, technische Gegenstände und das Wissen darüber (Technologie) und das soziale Zusammenleben (Soziologie) als ein Netz zu betrachten, in dem Menschen und von ihnen hergestellte Gegenstände (Artefakte) die Knoten des Netzes bilden. Die Beziehung von Menschen zu Menschen, Menschen zu Gegenständen sowie Gegenständen zu Gegenständen bilden die Kanten (Linien) des Netzes. Die Analyse solcher Netze ist eine wichtige Aufgabe der Sozioinformatik und Gegenstand des Kapitels Netzwerkanalyse. Auch Tiere wie der Biber sind Techniker mit einem sozialen Leben.

(Weßel C. Sozioinformatik: Von Menschen & Computern … und Bibern. Weidenborn Verlag  2021: S. 44)

 

Latour B. On recalling ANT. In: Law J, Hassard J (ed). Actor Network and After. Oxford, Blackwell Publishers 1998: 15-25. – http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/P-77-RECALLING-ANT-GBpdf.pdf (20 Jun 2019 und 12 Jun 2020 und 10 Aug 2021)

 

Vendée Globe. A world of emotions - The Vendée Globe 2020 in 52 minutes. via https://www.vendeeglobe.org/en/webdoc click "Fin" or https://www.youtube.com/watch?v=wK1F3qy8i80 (10 Aug 2021)

 

Blogrubrik Sozioinformatik

 

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