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Mein Name ist Bond

Pseudonym, Identität, Fiktion

Kürzlich bin ich gestolpert, im übertragenen Sinn, nicht über Ian Fleming's Mr. Bond von 1953.

 

Es geht um ein ganz anderes Buch mit einem ganz anderen Thema, erschienen in diesem Jahr - und um den Autor. Mein erster Gedanke: "Das ist kein Pseudonym, das ist Fake." Ein Foto, eine Biographie, inklusive Studium an einer renommierten Universität, die den "Autor" als Experten für das Thema des Buches qualifiziert. Jedoch kannte ich den Menschen, der der Autor ist. Nichts dergleichen, sehr wohl jedoch eine gute Ausbildung in einem anderen Bereich und profundes Wissen zum Thema des Buches. Warum hat er dieses Profil ins Netz gestellt? Seine Antwort: "Ach, so genau kenne ich mich nicht mit Pseudonymen aus und das Bild ist künstlich, kein echter Mensch." Hm, das unangenehme Gefühl blieb. Menschen, die ihn nicht kennen, könnten das Profil als echt annehmen, so vollständig war es. 

 

Was hat es mit Pseudonymen auf sich?

In meiner bisherigen Erfahrung stellen die Veröffentlichenden, in der Regel Verlage, es jeweils klar, dass es sich um ein Pseudonym handelt. Meist erfolgt dies ohne Nennung der tatsächlichen Autorin oder Autors, manchmal mit Nennung.

 

Seit 2015 schreibe ich selbst auch unter Pseudonymen. Es begann mit einem Schiffstagebuch, einem Weblog, einem Blog. Rudi Moos und sein Freud Horst Braun erzählten von den Abenteuern eines Segelbootes  und seiner Crew zu Wasser und an Land. Weitere Phantasiewesen und echte Menschen hielten Einzug. Da waren Rudis und Horsts Freundinnen Leiselotte (keine Schreibfehler) und Ulla und weitere Freunde wie Steffi, Max und Moritz. Der Anlass war die Frage zweier Frauen gewesen, die über das Segeln und Leben auf einem Segelboot lesen wollten. Die eine war eine erfahrene Seglerin, die andere betrat ein Schiff nur wenn es unbedingt sein musste, zum Beispiel eine Autofähre. Doch es gab schon so viele Segelblogs. Also kam die Idee: ich lasse Rudi erzählen. 

 

Damit erlebte ich zum ersten Mal, wie erhellend, entspannend, lehrreich und voller Spaß es sein kann, in eine andere Identität beim Schreiben zu schlüpfen. Die Perspektive und der Stil werden anders. Ich weitete es aus: Rudi Moos wurde zum Blogger des Verlags, den ich 2017 gegründet hatte. Dies ist Story Telling, ein Ansatz in der Geschäftswelt, im Lernen, im Coaching und auch in einigen psychotherapeutischen Feldern, wie der narrativen Psychologie. 

 

Identität und Geschichten

In meiner Arbeit als Beratende und Lehrende nutze ich Geschichten und erzähle davon in "Entdecken" (2017, S. 238), "andere arbeiten Lassen" (2019, S. 102-108) und in "Sozioinformatik" (2021, S. 22-27). Studierende, Klienten und Freunde und Bekannte sind einzeln oder in Gruppen wunderbare Erzählerinnen und Erzähler. 

 

Geschichten sind die älteste Methode der Dokumentation und Überlieferung. Menschen lernen durch Geschichten und bilden Identitäten – als Individuum, Gruppe, Gemeinde, Organisation oder Land. Geschichten unterhalten. Ein wichtiger Faktor dabei ist, dass wir uns mit Personen oder anderen Akteuren identifizieren. Wenn wir Geschichten weitererzählen, gestalten wir sie mit. Mit jedem Erzählen verändern sie sich.

(andere arbeiten lassen, 2019, S. 102)

 

Erzählende können Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Meer, Himmel, Sterne, Phantasiewesen, Plüschtiere und sicher noch einige andere sein. Als Lesende wissen wir nicht ob "die Autorin" vielleicht ein Mann ist, wie alt dieser Mensch ist, aus welchen Land und welcher Kultur er kommt und ob er "gesund" ist. Ich schreibe gesund in Anführungszeichen, weil dies relativ ist. Das kulturelle Verständnis von "gesund" ist oftmals mit Normen der "Mehrheit" verbunden. Menschen können in anderen Identitäten ihre Einschränkungen unsichtbar machen. Diese Einschränkungen können körperlicher oder auch psycho-sozialer Natur sein bis hin zu politischen Bedingungen, die die freie Meinungsäußerung einschränken. Diese Menschen können sich frei bewegen. So schildern sie es laut Miller & Horst und auch Boellstorff in ihren jeweiligen Kapiteln des Buches "Digital Anthropology" (2021). 

 

Zurück zur Frage "Was hat es mit Pseudonymen auf sich?" Wie funktioniert es? Künstlerisch, rechtlich, ethisch? Im Folgenden konzentriere ich mich auf Buch-Autor:innen. Wenn Sie weiter stöbern möchten: eine online-Suche mit Stichworten wie Pseudonym und auch Künstlername bringt vieles aus dem Bereichen darstellende Kunst und Identitäten im Internet sowie Hintergründe zum Namensrecht, der Gültigkeit einer Unterschrift mit dem Pseudonym sowie den Bedingungen zum Eintrag des Ordens- oder Künstlernamens im deutschen Personalausweis.

 

Warum und wozu wählen Autor:innen ein Pseudonym?

Um ihre Privatsphäre zu wahren, um eine neue Perspektive einzunehmen, um freier agieren zu können (siehe "gesund") und vielleicht auch, um einen leichteren Zugang zu einer breiteren Öffentlichkeit zu finden. Dass beispielsweise Frauen mit einem Männernamen publizieren war schon vor George Sand der Fall. George Sand ist das Pseudonym und der Künstlername von Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil (1804-1876). Stefan Bollmann erzählt in "Frauen und Bücher" (2013) von der Motiven und den Erfolgen weiterer Frauen, die diesen Weg gewählt haben. Und wer weiß, wer tatsächlich hinter Jean-Luc Banalec steckt ... 

 

Außerdem sind Pseudonyme hilfreich, wenn Menschen auf mehrere Gebieten schreiben und veröffentlichen, beispielsweise wissenschaftlich und belletristisch. Liebesromane möchte ein Maschinenbauingenieur an einer Uni vielleicht als Anna Schmidt veröffentlichen (dies ist ein konstruiertes Szenario!). Oder Sie bearbeiten tatsächlich verschiedene Gebiete. Bei mir sind es zum einen mein berufliches Schreiben in Blog & Buch, die Texte des Verlagsbloggers Rudi Moos und außerdem Maxine Grou und Knut Baas, die vom Leben auf einem Boot berichten (blog 02 Nov 2021 Refugium: Sparringspartner).

 

Worauf sollten Menschen achten, die ein Pseudonym wählen?

Der Name sollte nicht zu Verwechslungen mit anderen Menschen und weiteren Identitäten führen. Sich "Pumuckl" zu nennen, wäre sicher eher nicht angebracht. Die Autorin Ellis Kaut (1920-2015) und - nach ihrem Tod - der Verlag haben wahrscheinlich gute Gründe zu widersprechen. Es gibt noch einiges mehr im Namensrecht zu beachten ...

 

Wie steht es um die Glaubwürdigkeit?

Das Geheimnis um die Identität von Autor:innnen und Künstler:innen ist in zahlreichen Fällen wohlbegründet und zu respektieren. Wichtig ist in meinem Augen, dass nur der Name ein Pseudonym ist, wenn es sich um einem Menschen handelt. Wenn es andere - ich fasse es mal so zusammen - "Wesen" sind, sollte deutlich werden, wer es ist. Wie Rudi Moos. 

 

Eine fiktive Geschichte eines Menschen aufzubauen bis hin zu einem Autorenfoto und einer Biographie, einschließlich beruflicher Qualifizierung für das Thema eines Buches oder einer anderen Arbeit, überschreitet jedoch eine Grenze. Es ist in meinen Augen ein Ausdruck mangelnden Respekts: vor den Lesenden und vor sich selbst als Autor. Auch ein Mensch, der sich ein Fachgebiet durch Eigenstudium sowie berufliche und private Erfahrungen erschließt, kann wie ein studierter Experte über ein Thema schreiben. Wenn die Lesenden entdecken, dass eine Autorenidentität nicht echt ist, obwohl sie diesen Anschein erweckt, wird das Buch - und sei es noch so gut und fundiert - für viele Menschen an Glaubwürdigkeit verlieren und mit ihm der Autor, leider auch in anderen seiner Lebensbereiche. 

 

Was tun, wenn so etwas passiert?

Nun, ich habe den Autor bereits gefragt, warum er so gehandelt hat. Er meinte, er kenne sich nicht so gut aus mit Pseudonymen. Okay, also habe ich noch mal recherchiert. Und ich habe mich gefragt, ob vielleicht die im digitalen Zeitalter weite Verbreitung der Verwendung von Alias, Avataren und anderen künstlichen Identitäten eine Hemmschwelle verringert hat. Die Schwelle, eine fiktive Identität in ausgedehnter Form für einen Autoren zu entwickeln und zu nutzen.

 

Der Mensch, der diese Reflektionen zum Pseudonym hier ausgelöst hat, hat ein interessantes Buch geschrieben und ich schätze ihn in seiner beruflichen Arbeit und vor allem in seiner Art als Mensch, im Umgang, in seiner Aufgeschlossenheit und seinem Engagement. Vielleicht findet er ja einen Weg mit seinem Pseudonym. Bestimmt. Entweder er belässt es wie es ist ... oder er klärt das Ganze. Dies ist im digitalen Zeitalter ebenso leicht wie das Entwickeln einer Identität. 

 

Christa Weßel - Montag, 20 Dez 2021

 

Erwähnte Bücher

  • Banalec JL. Bretonisches Leuchten. Köln, Kiepenheuer & Witsch 2017. (das sechste Buch aus der Reihe des Kommissars Dupin, als ein Beispiel)
  • Bollmann S. Frauen und Bücher. München, Deutsche Verlags-Anstalt 2013. (blog 11 Aug 2021)
  • Fleming I. Casino Royale. London, Jonathan Cape 1053.
  • Geismar H, Knox H (eds.) Digital Anthropology. Second Edition. London & New York, Routledge 2021.
  • Kaut E. Meister Eder und sein Pumuckl von Ellis Kaut, Illustrationen von Barbara von Johnson. Stuttgart, Herold Verlag 1965. (und viele folgende Bücher, auch als TV-Serie)
  • Weßel C: die hier erwähnten Bücher siehe books.

Blogrubriken Schreiben & Publizieren und Sozioinformatik (weil es auch um Identitäten im digitalen Zeitalter geht)

 

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